Heute ist der 22. September 2012 und vor genau einem Monat
hat meine Abenteuerreise nach Bolivien begonnen. Einerseits kommt es mir so
vor, als sei ich schon viel länger hier, aber andererseits ist die Zeit
wirklich wie im Flug vergangen. Und schon jetzt kann ich mit ziemlicher
Sicherheit sagen, dass ich mit einem völlig veränderten Weltbild, einem ganz
neuen Blick nach Deutschland zurückkehren werde. Ich fühle mich wohl hier und
freue mich auf die noch vor mir liegenden 11 Monate, aber das Leben ist hier in
vielerlei Hinsicht so anders als unseres in Deutschland. Und damit meine ich
nicht nur den Lebensstandard. Sondern auch die Lebensform und die Einstellung
zu den Dingen. Diese Einstellung geht teilweise von der Bevölkerung, aber
gerade bei meinem folgenden Beispiel ist es auch etwas, das sich schnell auf
uns Freiwilligen übertragen hat oder eben von ganz alleine zu den anderen
Umständen hier dazu gehört. Ich möchte ein Beispiel bringen, über das wir uns kürzlich
noch unterhalten haben: der Umgang mit und die Wahrnehmung der Zeit.
Alcalá liegt etwa 170 Kilometer entfernt von Sucre. In
Deutschland braucht man für diese Strecke, über gut ausgebaute Autobahnen
vielleicht anderthalb Stunden. Eigentlich nicht lange. Aber wie oft fährt man
das schon? Einmal im Monat? Vielleicht zweimal?! (Wenn man nicht gerade
geschäftlich unterwegs ist.)
Von Alcalá nach Sucre brauchen wir wenn‘s gut läuft mit der
Flota knapp vier Stunden. Wie oft würden wir uns in Deutschland überlegen, ob
sich die Fahrt lohnt. „Vier Stunden im Auto! Vielleicht doch lieber nicht?!“
Ich kann aus ganz persönlicher Erfahrung berichten: Zu meinen Großeltern fahren
wir auch etwa vier Stunden, vielleicht etwas mehr… Und wie oft besuchen wir
sie? Zweimal im Jahr. Wenn‘s hoch kommt vielleicht dreimal.
Hier überlegen wir nicht lange, ob wir nach Sucre fahren.
Einmal im Monat haben wir die Übernachtung im Hostel frei und diese nutzen wir
dann auch. Einfach, um mal wieder in die Stadt zu kommen, einige Besorgungen zu
machen, vielleicht die Freiwilligen aus den anderen Einsatzorten treffen… Und
was sind schon vier Stunden in einem staubigen Bus? – nichts wenn man bedenkt,
dass wir von Santa Cruz nach Sucre gut 14 Stunden gebraucht haben.
Natürlich kommt auch der finanzielle Aspekt hinzu. Die
Busfahrt nach Sucre kostet uns 20-25 Bolivianos, das sind etwas mehr als 2€ –
also nicht zu vergleichen mit den Preisen in Deutschland! Aber dieser
Unterschied ist ja wieder nur für uns Deutsche/Europäer ersichtlich. Die
wenigsten Alcaleños können es sich leisten, regelmäßig nach Sucre zu fahren.
Was ich aber eigentlich sagen will, ist, dass es in
Deutschland immer um die Frage geht: „Lohnt es sich? Könnte ich die Zeit nicht
irgendwie besser einteilen?“. Hier bekommt man irgendwie eine ganz andere und
neue Einstellung dazu. Dann sitzt man eben vier Stunden in der Flota und hat
nur anderthalb Tage in Sucre, aber was soll‘s. Oder die Flota kommt eben zwei
Stunden später als gedacht oder die Fahrt dauert plötzlich sieben Stunden oder
oder oder…
Und so ist es mit allen Sachen hier. Man kann locker eine
Viertelstunde später als verabredet kommen, was macht das schon aus? Und es
macht doch wirklich nichts aus! Wir Deutschen und vielleicht auch insgesamt wir
Europäer machen uns selbst immer viel zu viel Stress. Wir wollen (und müssen
vielleicht manchmal auch) alle Termine einhalten – es gibt ja schließlich Werte
wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Aber dabei vergessen wir zu leben! Wie viele junge Leute
leiden bei uns bereits am Burn Out?!
Hier lernt man zu warten, in gewissen Punkten gelassener zu
werden und vor allem nicht immer der Zeit hinterher zu laufen, sondern das
Leben mit all seinen Augenblicken zu genießen!!!
Damit beende ich jetzt meine Philosophiestunde und melde
mich bald wieder mit Neuigkeiten aus Bolivien.
(Eintrag vom 22. September 2012)
Johanna ist zur Philosophin geworden und erwachsen.
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